High Need Babys: Kinder mit besonderen Bedürfnissen
Während das eine Baby immer fröhlich und nur sehr selten unzufrieden ist, weint ein anderes scheinbar den ganzen Tag und braucht die ständige Aufmerksamkeit und Nähe seiner Eltern. Jedes Kind ist anders – und das zeigt sich schon im Säuglingsalter.
High Need Baby: Begriffserklärung und Ursprung
Vor dem Zweiten Weltkrieg und während des Nationalsozialismus war der Erziehungsansatz des Psychologen John B. Watson (1878–1958) hoch angesehen. Er propagierte, Kinder möglichst früh zur Eigenständigkeit zu erziehen und vertrat die Meinung, dass Liebkosungen den Charakter schwächen. Dieses oder ähnliche Erziehungskonzepte prägten auch noch die Nachkriegsgeneration. Im Laufe der Zeit etablierten sich andere Erziehungsmethoden, die das Kind und seine individuellen Bedürfnisse mehr in den Fokus rückten. In den 1980er-Jahren führten William Sears, Professor für Kinderheilkunde, und seine Ehefrau Martha (Krankenschwester, Stillberaterin) den Begriff des High Need Babys ein und schärften damit den Blick für die individuellen Bedürfnisse eines Kindes. Kinder, die viel Aufmerksamkeit von ihren Eltern einfordern, ein unruhiges Temperament besitzen und überdurchschnittlich viel Nähe benötigen, werden als High Need Babys (dt. hochbedürftige Kinder) bezeichnet. Dabei handelt es sich nicht um eine Störung, sondern um ganz bestimmte Persönlichkeitsmerkmale. Das Ehepaar Sears beschrieb die damit einhergehenden Symptome und entwickelte ein bindungs- und bedürfnisorientiertes Erziehungsmodell (Attachment Parenting).
Was ist ein High Need Baby? Die zwölf Kriterien nach Sears
Früher galt ein Baby als „unruhiger Säugling“, wenn er mehr Aufmerksamkeit von den Eltern einforderte, als erwartet. Mittlerweile wissen Expert:innen dieses Verhalten besser einzuordnen und sind mit Begriffen wie Hypersensitivität, Schreibaby oder High Need Baby vertraut. Jedes Kind hat im Grunde dieselben Bedürfnisse. Daher zeigen alle Kinder immer mal wieder Merkmale, die das Ehepaar Sears High Need Babys zuschreibt. Es ist daher nicht ausschlaggebend, ob man eines der folgenden Anzeichen bei einem Baby wiedererkennt, sondern wie viele davon zutreffen und wie oft.
Intensives Verhalten. High Need Babys tun vieles mit einem hohen Maß an Energie: Sie schreien laut, trinken schmatzend, lachen mit Begeisterung und protestieren heftiger als andere Kinder – besonders dann, wenn ihre Bedürfnisse nicht umgehend befriedigt werden. Kleinkinder sind oft besonders umtriebig und neugierig.
Hyperaktivität. Sears spricht im Zusammenhang eines hyperaktiven Babys nicht von einer Störung, sondern beschreibt lediglich einen unruhigen, angespannten Gemütszustand. High Need Babys scheinen ständig in Bewegung zu sein.
Anspruchsvoll. Ein High Need Kind stellt hohe Anforderungen und braucht viel Aufmerksamkeit. Die ständige Zuwendung verlangt einigen von den Eltern ab und dies kann sehr energieraubend sein.
Häufiges Stillen/Füttern. Es lässt sich beobachten, dass High Need Babys überdurchschnittlich oft gestillt oder gefüttert werden wollen. Dabei steht nicht immer die Nahrungsaufnahme, sondern oftmals Zuwendung und Nähe im Mittelpunkt. Es ist möglich, dass ein High Need Säugling später Schwierigkeiten mit dem Abstillen hat, im Vergleich zu anderen Kindern.
Fordernder Charakter. Ist ein High Need Kind hungrig oder möchte es getragen werden, wird es diese lautstark einfordern und nicht zaghaft danach fragen. Viele Anliegen erscheinen extrem dringend, was sich darin äußert, dass das Baby schrill und bitterlich weint.
Schlafschwierigkeiten. Die Intensität, die sich bei einem High Need Baby den ganzen Tag über zeigt, überträgt sich auch auf die Nacht und die Nickerchen zwischendurch. Diesen Kindern fällt es in der Regel schwer, zur Ruhe zu kommen und in den Schlaf zu finden.
Unzufriedenheit. Viele Eltern von High Need Babys beschreiben, dass ihr Kind immer unzufrieden wirkt – egal, wie viel Aufmerksamkeit ihm zuteilwird.
Unberechenbar. Mit einem High Need Baby wird es nie langweilig, denn es ist schwer vorherzusehen, was der Tag bringen wird. Ist das Baby heute glücklich und zufrieden oder folgt ein Wutanfall dem nächsten? Bezeichnet für ihren Charakter sind starke Stimmungsschwankungen. Zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt liegen oft nur wenige Minuten.
Sensibilität. High Need Kinder reagieren sehr sensibel auf ihre Umgebung. Laute Geräusche könnten ihnen Angst machen und sie wirken oft überreizt.
Tragebaby. Es ist typisch für ein High Need Baby, dass es sich nicht oder nur schwer ablegen lässt. Das Kind möchte möglichst eng am Körper getragen und geschunkelt werden.
Selbstberuhigung. Viele Babys lernen in den ersten Lebensmonaten, sich selbst zu beruhigen und auch nachts nach einer kurzen Wachphase von allein wieder einzuschlafen. High Need Babys hingegen fällt es schwer, dies ohne die Hilfe ihrer Eltern zu tun. Oft bleibt auch der Einsatz altbewährter Einschlafhilfen (z. B. Schnuller, Spieluhr) erfolglos.
Trennungsangst. Für ein High Need Baby ist es nicht einfach, sich von Mama oder Papa zu trennen. Wann immer Eltern ihren Liebling im Kindergarten abgeben oder einem Babysitter anvertrauen wollen, wird ihnen wahrscheinlich lautstarker Protest entgegenschlagen.
Jedes Baby ist einzigartig und die beschriebenen Eigenschaften eines High Need Babys sind nicht besser oder schlechter als die von anderen Kindern. Eltern sollten sie daher nicht werten, sondern vielmehr anerkennen, denn sie zeugen auch von Stärke und Charakter.
Attachment Parenting – Wie geht man mit High Need Babys um?
Der von Sears geprägte Begriff „Attachment Parenting“ umschreibt eine bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung. Dabei verbringen die Eltern möglichst viel Zeit im engen Kontakt mit ihrem Kind. Sie lernen so schnell, die Signale des Babys zu lesen und entsprechend auf die ganz individuellen Anforderungen einzugehen. Laut Sears sind die folgenden sieben Faktoren („7 Baby B’s“) für eine erfolgreiche Eltern-Kind-Beziehung entscheidend:
Kontaktaufnahme nach der Geburt (Bonding): Der enge Kontakt nach der Geburt und während des Wochenbettes ist der entscheidende erste Schritt für eine enge und gelungene Eltern-Kind-Bindung.
Stillen (Breastfeeding): Eine erfolgreiche Stillbeziehung entsteht dann, wenn die Mutter die Signale des Säuglings zu lesen lernt – also erkennen kann, wann das Baby hungrig ist und dann auf dieses Bedürfnis eingeht.
Tragen des Säuglings (Babywearing): Getragene Babys sind seltener unruhig. Aus den beschützenden Armen ihrer Eltern heraus, fällt es ihnen leichter, ihre Umgebung kennenzulernen.
Familienbett (Bed Sharing): Nur wenige Säuglinge verbringen die Nacht gern allein. Gemeinsam zu schlafen, erleichtert das nächtliche Stillen und sorgt auch während der Nachtstunden für Nähe und Geborgenheit.
Glaube dem Weinen des Babys (Belief in baby’s cries): Babys kommunizieren, indem sie weinen. Auf dieses eindeutige Signal sollten Eltern immer reagieren. So lernen Kinder, dass ihre Bedürfnisse ernst genommen werden.
Gleichgewicht und Grenzen (Balance and boundaries): Ausgeglichene Eltern, die ihre Grenzen kennen und respektieren, können auch viel entspannter und energiegeladener mit ihrem Kind umgehen.
Vorsicht vor Besserwissern (Beware of baby trainers): Eltern sollten sich von gut gemeinten Ratschlägen Außenstehender nicht verunsichern lassen.
All diese Dinge machen dich sensibel für die Bedürfnisse deines Kindes – egal ob dein kleiner Schatz ein High Need Baby ist oder nicht. Vieles wirst du sicherlich ganz instinktiv machen und darum geht es auch: Vertraue im Umgang mit deinem Baby auf dein Gefühl.
Das Leben mit einem High Need Baby: Tipps & Tricks
Der Alltag mit einem High Need Baby ist herausfordernd und daher ist es nicht verwunderlich, wenn Eltern immer mal wieder an ihre Grenzen stoßen. Unsere Tipps können eine Anregung sein, wie man das Leben mit einem High Need Kind etwas leichter gestalten könnte.
Nimm es nicht persönlich! Möchte ein High Need Baby den ganzen Tag getragen werden oder weint es viel, tut es dies nicht, um seine Eltern zu ärgern. Das starke Verlangen nach Nähe und die Fähigkeit, seine Bedürfnisse klar zu äußern, liegt in der Natur dieser Kinder.
Vergleiche dein Baby nicht mit anderen. In der Krabbelgruppe oder im Kindergarten mag ein High Need Baby möglicherweise durch sein energetisches Verhalten auffallen. Anders zu sein ist nicht gleichbedeutend mit falsch sein. Vermeide es, deinen Schatz mit anderen Kindern zu vergleichen. Dein Baby ist genau richtig so, wie es ist.
Teamwork. Ein High Need Baby bedeutet Zuwendung rund um die Uhr. Für eine einzelne Person ist das auf Dauer nicht machbar. Teile die Aufgaben und die Betreuung zwischen dir und deinem / deiner Partner:in oder einer anderen vertrauten Person so auf, dass jeder ausreichend viel Schlaf und auch einmal Zeit für sich selbst bekommt. Setzt euch regelmäßig zusammen und besprecht, ob der von euch erstellte Plan noch funktioniert oder aufgrund von anderen, neuen Herausforderungen angepasst werden muss.
Tragetuch. High Need Babys können schnell unzufrieden werden, wenn sie nicht auf Mamas oder Papas Arm sind und das Ablegen kann zur Herausforderung werden. Viele Eltern tragen daher ihre Kinder in einem Tragetuch oder einer speziellen Babytrage – auch, wenn sie wach sind. So lässt es sich für ein extrem Nähe bedürftiges Baby immer gut aushalten und die Eltern haben beide Hände frei.
Stillen nach Bedarf. Das Stillen dient Babys nicht nur zur Nahrungsaufnahme, sondern es beruhigt sie auch. High Need Babys verlangen in der Regel öfter nach der Brust. Es ist hilfreich, diesem Verlangen nachzugeben. Häufig gestillte Säuglinge trinken meist kürzer und sind allgemein zufriedener, als Babys, die nach einem strengen Stillplan (z. B. im Dreistundenrhythmus) gefüttert werden.
Nicht mit äußeren Reizen überfordern. Ein High Need Baby reagiert äußerst sensibel auf seine Umgebung. Daher ist es sinnvoll, das Kind nicht mit Reizen (z.B. lautes, blinkendes Spielzeug, Menschenansammlungen, Verkehrslärm) zu überfordern. Besonders dann nicht, wenn es langsam an der Zeit ist, schlafen zu gehen.
Vergiss nicht deine eigenen Bedürfnisse! Bei all der Fürsorge ums Kind, dürfen sich die Eltern nicht selbst vergessen. Man kann der Elternrolle nur dann wirklich gerecht werden, wenn man ausgeruht und ausgeglichen ist. Das ist meist leichter gesagt als getan. Dennoch: Plane Auszeiten und Pausen ein.
Nimm Hilfe in Anspruch. High Need Babys haben den Umständen zufolge auch High Need Eltern. Wer so viel Aufmerksamkeit schenkt, benötigt selbst auch Zuspruch und Fürsorge. Manche Eltern nehmen das Angebot einer Eltern-Kind-Kur in Anspruch oder spannen ein enges Netz aus Helfern aus ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis. Deine Hebamme und dein Kinderarzt / deine Kinderärztin können dir sicherlich weitere wertvolle Tipps geben.
Alles braucht seine Zeit. Auch ein High Need Baby wird irgendwann selbstständiger und die Zeit, in der es ständig nach der ungeteilten Aufmerksamkeit der Eltern verlangt, wird vorübergehen. Dieser Gedanke macht den momentanen Alltag vielleicht nicht leichter, kann aber dennoch Mut machen.
Die Persönlichkeit eines High Need Babys kann und sollte man nicht beeinflussen. Eltern können aber ihren Alltag an die Bedürfnisse ihres Kindes anpassen und sollten sich an den vielen wunderbaren Seiten ihres ganz besonderen Babys erfreuen.
FAKTEN IM ÜBERBLICK
Der Begriff High Need Baby (dt. hoch bedürftiges Kind) wurde von dem amerikanischen Ehepaar Sears geprägt. Ein High Need Kind fordert viel Aufmerksamkeit von seinen Eltern ein, besitzt ein unruhiges Temperament und benötigt überdurchschnittlich viel Nähe. Es handelt sich dabei nicht um eine Störung, sondern vielmehr um bestimmte Persönlichkeitsmerkmale.
Du wirst mit der Zeit immer besser lernen, die Signale deines Säuglings zu verstehen und auf seine Bedürfnisse einzugehen. Als engste Vertrauensperson deines Babys, weißt du am besten, was ihm guttut und was nicht. Solltest du vermuten, dass dein kleiner Schatz ein High Need Baby ist, besprich deine Beobachtungen mit deiner Hebamme und bei der nächsten U-Untersuchung auch mit deinem Kinderarzt / deiner Kinderärztin.
Zur Entstehung dieses Artikels: Alle Inhalte in diesem Artikel basieren auf vertrauenswürdigen, fachspezifischen und öffentlichen Quellen. Die hier aufgeführten Ratschläge und Informationen ersetzen keinesfalls die medizinische Betreuung durch entsprechendes Fachpersonal. Konsultiere für eine professionelle Diagnose und Behandlung immer deinen Arzt bzw. deine Ärztin.
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